Als ich das Buch las war ich zunächst etwas enttäuscht. Die nahende Katastrophe wird ständig angedeutet, doch sie will einfach nicht passieren. Eine Dystopie, die nicht kippt.
Aber erst mal ganz von vorne: In Coby County leben ausschließlich reiche, gesunde und äußerst reflektierte, junge oder jung gebliebene Menschen. Alle haben hippe Agentur-Jobs und arbeiten im Grunde nur zum Zeitvertreib. Denn wohlhabend genug sind die Bewohner von Coby County auch ohne Erwerbsarbeit allemal. Ein Leben wie im Paradies auch für den Protagonisten Wim, erfolgreicher Halbtags-Literatur-Agent. Während des Romans gibt es nun allerdings ständig Andeutungen, dass die Idylle trügerisch sein könnte. Die Bürgermeisterwahl verläuft überraschend, Unfälle passieren, eine Untergrund-Bewegung beginnt sich zu bilden und ein schwerer Sturm droht Coby County in schimmernden Dunst zu verwandeln. Nur: Die Katastrophen bleiben aus. Die Unfallopfer können gerettet werden, der Sturm zieht vorbei und die Untergrund-Bewegung beschränkt sich auf Feierei abseits des Mainstreams. Im Grunde ist sie lediglich Ausdruck einer weiteren Avantgarde.
Soweit zu Handlung, die mich das Buch etwas enttäuscht weglegen ließ. Dennoch lohnte sich die Lektüre. Randt ist in diesem Roman nämlich ein erschreckendes Portrait einer Gesellschaft, vielleicht auch einer zukünftigen Generation gelungen. Die Bewohner von Coby County bestechen vor Allem durch zwei Eigenschaften: Reflektionsvermögen und Ironie. Wenn Win weinen muss, gilt sein erster Gedanke dem ästhetischen Wirkungsgrad seiner Tränen. Die auslösende Emotion ist ihm rational klar, sie verliert damit aber jede Kraft, vielleicht weil es Wim trotzdem noch viel zu gut geht, aus lauter Mensch gewordener Genügsamkeit. Denn in Coby County lebt jede Frau und jeder Mann gesund, wohlhabend und aufgeklärt. Selbst die sexuelle Dramaturgie einer Beziehung unterliegt der Impulsarmut von Reflektion und Ironie und wird auf diese Weise geskriptet. Der Verzicht auf Rausch, Impuls, Emotion, Schmerz und Euphorie ist möglicherweise ein Merkmal jeder modernen Wohlstandsgesellschaft. Es ist auf jeden Fall eines von Coby County, eine Welt in der es immer schimmert aber niemals strahlt.
Nach dem ersten enttäuschten Weglegen blieb jedoch die treffsichere Beschreibung der Gedankengänge und charakterlichen Seichtheit, die durch die Unaufgeregtheit der Handlung noch unterstrichen wird, hängen. Und so wirkte das Buch noch ein wenig nach, es stimmte mich nachdenklich und ließ mich mit fzerozero diskutieren. Und das sind ja immer gute Dinge. Zudem stolperte ich diese Woche wieder über einen Anknüpfungspunkt, nämlich den soziologischen Begriff der Individualisierung. Vor langer Zeit in der Schule zuletzt gehört, verlor ich ihn ein wenig aus den Augen. Ulrich Beck fasst dieses Konzept durch einen sehr kurzen, griffigen Satz zusammen:
„Normalbiographie verwandelt sich in Wahlbiographie“
Es geht um die Auflösung und Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensmodelle und ihrer Institutionen. Durch die Ehe, die Familie, die soziale Klasse und die Erwerbsarbeit beispielsweise, war der Platz eines Individuums in einer Gesellschaft relativ fest verortet. Diese Strukturen weichen im Rahmen der Individualisierung auf. Beck nennt dafür zwei Voraussetzungen: allgemeiner hoher materieller Wohlstand und ein hohes Bildungsniveau. Erst durch die Erreichung dieser Standards werden die industriegesellschaftlichen Lebensmodelle, wenn es eben nicht mehr um das nackte Überleben geht, zunehmend obsolet.
Nun lösen sich die alten Institutionen und Strukturen nicht einfach nur auf, vielmehr werden sie ersetzt. Nur weiß noch niemand genau womit. Nur eines ist klar: Der Einzelne, das Individuum hat mehr Wahlmöglichkeiten als je zuvor, seine eigene Biographie zu gestalten, ja zu konstruieren. Norbert Elias verweist aber völlig richtig darauf, dass er nicht mehr nur mehr Wahlmöglichkeiten hat, sondern eben auch mehr Entscheidungszwang. Die Gesellschaft wird also pluralistischer, der Druck auf das Individuum steigt. Das sich eine Gesellschaft dabei komplett entsolidarisiert und stattdessen das Prinzip Ellenbogen regiert, ist denke ich zu fatalistisch gedacht. Aber eine Tendenz in diese Richtung ist möglicherweise zu erkennen.
In Coby County ist dieser Prozess der Individualisierung schon abgeschlossen. Der Ellenbogen ist dort nicht das Problem. Das Wohlstandsniveau ist so hoch, ein Ellenbogen wäre peinlich. Stattdessen haben sich aber andere soziale Normen herausgebildet, die zu Sicherheit und Stabilität führen, indem sie emotionale Extreme dem Diktat der Rationalität, der Nachhaltigkeit und der Ästhetik unterordnet. Und nun kommt die steile These: Möglicherweise entdecken wir bei den Grünen die zukünftige politische Blaupause für ein echtes Coby County.