In Unterwerfung geht es um folgendes Gedankenexperiment: Um im Jahre 2022 den Aufstieg von Front National unter Marine Le Pen zu verhindern, kommt es zum Schulterschluss zwischen den Sozialisten und den Konservativen, die den gemäßigten muslimischen Politiker Ben Abbes und dessen Partei unterstützen und ihn so zum Staatspräsident machen.Natürlich kommt es im Vorfeld und im Rahmen dieser politischen Umwälzung zu allerlei Tumulten. Schließlich sind es jedoch ausgerechnet der Islam und die Einführung der Sharia, des Patriarchats und der Polygamie, die das Land befrieden und an dessen Ende ein vereinigtes, harmonisches islamisches Europa steht. Houellebecq entwirft in Unterwerfung also eine Utopie, keine Dystopie.
Den Roman als ein reines Gedankenexperiment abzustempeln, wäre aus meiner Sicht jedoch zu kurz gedacht. Auch in 1984 und Brave New World ist nicht entscheidend, wie genau die Gesellschaftsentwürfe zustande kommen, sondern, was sie uns in Bezug auf unsere heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen sagen können.
Und da führt die Betrachtung des Protagonisten Francois, einem Literaturwissenschaftler Mitte Vierzig, weiter. Ein typischer Houellebecq-Typ: Intellektuell schonungslos scharfsinnig, aber emotional völlig entrückt. Ein gealterter Mann, der keine sexuelle Gelegenheit verpassen möchte, aber sich weder emotional binden noch wirklich Leidenschaft empfinden kann – was in kurios passivierten Sätzen wie, „Es fand Geschlechtsverkehr statt“, mündet.
Zum sexuellen Opportunismus gesellt sich die komplette politische Gleichgültigkeit Francois’. Mehr als rumnölen, trinken und Fast-Food kann er mit sich nicht anfangen. Houellebecq zeichnet ein sehr konsequentes Bild eines Mannes ohne Überzeugung.
Eine weitere Konstante gibt es allerdings noch: Immer wieder setzt sich der Literaturprofessor mit dem Autor Joris-Karl Huysmans und seinen Werken und dessen Beziehung und Wiederannäherung zum Katholizismus auseinander. Darüber spinnt Houellebecq ein zweites religiöses Motiv. Der Katholizismus ist gleichzeitig Parallele und Option. So wird deutlich: Houellebecq geht es nicht nur um den Islam, es geht auch um die Krise der christlichen Religionen. Man könnte sagen, es geht Houellebecq vor allem um die Abwesenheit von Religion, die Ablehnung des Metaphysischen und jeglicher Transzendenz, um die „erstickende Kraft des Rationalismus“, wie Houellebecq es in einem Interview mit dem Spiegel ausgedrückt hat.
Dieser Aspekt von Unterwerfung ist es, der mich wirklich gepackt hat. Denn obwohl ich weit davon entfernt bin, gläubig oder gar religiös zu sein, habe ich mit zunehmenden Alter doch wachsenden Zweifel daran, dass es gänzlich ohne Religion, gänzlich ohne Metaphysik jemals gehen kann und gehen sollte. Und darüber, was das eigentlich über uns und unsere Überzeugungen aussagt. Überzeugung – allein das Wort erscheint mir so groß, ich möchte es gleich entschärfen. Ich glaube, mit Rationalität komme ich hier nur begrenzt weiter.
In Unterwerfung bleibt letztlich offen, was aus dem überzeugungslosen Francois geworden ist. In einer Art Vision am Ende des Romans konvertiert er aus vornehmlich opportunistischen Gründen zum Islam, was seine Karriere vorantreibt und dank der Polygamie auch sein Beziehungsproblem löst. Insgesamt dürfte es ihm so besser gehen als vorher, ob ihn das auch erfüllt, steht auf einem anderen Blatt.
Für mich steht am Ende eher die Frage: Wie weit können uns Humanismus und Rationalität führen. Wenn ich beispielsweise durch meine Twitter-Timeline scrolle, wird sich über die Kirche und Esoterik, aber nebenbei auch über Spiritualität und Irrationalität eigentlich nur noch wahlweise empört oder lustig gemacht. Oft ist die Kritik berechtigt. Das Problem ist allerdings, dass sie keinerlei Antworten oder Lösungen auf metaphysischer Ebene bietet. Stattdessen wird Wissenschaft und Rationalität hochgehalten, die aber mit der Metaphysik gar nichts zu tun haben.
Was, wenn nicht die Religion das auszulachende Relikt aus früheren Zeiten ist? Was, wenn vielmehr der Humanismus, die Aufklärung am Ende sind?